Corona-Populismus: Auf dem Weg zur illiberalen Demokratie von Ortwin Rosner

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Corona-Populismus: Wie man den Hass auf die Ungeimpften gezüchtet hat

Ein vom Papst erleuchteter Klagenfurter Rektor, ein Sport-Reporter in kriegerischer Angriffspose und ein spaltender „Spiegel“-Kolumnist. Sie sind Beispiele für das Ende der offenen Gesellschaft.

Am Anfang eine gute Nachricht: Wenn man heutzutage die Höhen postmodernen Unsinns erklimmen will, muss man sich gar nicht mehr durch irgendwelche schwer lesbaren Klassiker wie zum Beispiel die „Grammatologie“ des französischen Salonphilosophen Jacques Derrida oder durch die recht willkürlich argumentierenden Schriften einer Judith Butler quälen. Es ist inzwischen deutlich billiger zu haben. Als Ausdruck des an allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft stattfindenden geistigen Zerfalls konnte man sich kürzlich stattdessen ebenso das recht kindlich und einfach geschriebene Rundmail des Rektors der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Oliver Vitouch, vom 6. November zu Gemüte führen, in dem er ungeimpften Studierenden erklärte, dass sie an höheren Bildungseinrichtungen nichts mehr zu suchen hätten. Schwindlig konnte einem dabei allerdings trotzdem werden, denn ein kohärenter Gedankengang war darin weitgehend zu vermissen.

Beispiel eins: Oha, der Papst!

Stattdessen war die weltanschauliche Darlegung, zu der der geistig wendige Hochschulleiter ausholte, im wahrsten Sinne des Wortes divers. Schaffte der gute Mann es doch tatsächlich, sich im entscheidenden Absatz der Mitteilung an die ihm anvertrauten Zöglinge sowohl auf die Wissenschaft als auch auf den Papst und, damit die Wirrnis komplett ist, dann doch wiederum auf die Aufklärung zu berufen. Den weiten Horizont, auf dem sein Geist ruht, stellte er endgültig schlagend dadurch unter Beweis, dass er am Schluss seines Rundmails sogar den Wikipedia-Artikel zum Begriff der „Aufklärung“ verlinkte.¹

Das ist eine Leistung, deren Dimension man erst nach und nach erfassen kann. Nicht nur, dass diese bunten Verweise ein derartig ungeordnetes weltanschauliches Durcheinander ergeben, dass es damit andernorts nicht einmal für einen schlechten Schüleraufsatz gereicht hätte. Man möge es doch auch bitte nicht außer Acht lassen, dass Vitouch es tatsächlich zustande brachte, sich auf eine Äußerung des Papstes zu berufen, in der dieser von „Nächstenliebe“ gesprochen hatte, um im Namen dieser Äußerung Leuten zu erklären, dass er sie von seiner Universität ausschließt. Anscheinend sah der Klagenfurter Rektor also im Ausschluss von Personen aus dem Zugang zum Hochschulwesen einen Akt der Nächstenliebe. So etwas muss ihm in der Tat einmal einer nachmachen können. Vielleicht hätte aber auch einer der Studenten ein christliches Erbarmen mit ihm haben und ihm daraufhin als Antwort einen Wikipedia-Artikel zu dem Begriff „Nächstenliebe“ retour schicken sollen. 

Dass eine derartig dilettantische Aussendung überhaupt möglich war und allgemein ernst genommen wurde, anstatt dass man in schallendes Gelächter darüber ausbrach, zeugt nicht nur vom geistigen Niveau, auf dem die Corona-Populisten sich mittlerweile tummeln, sondern auch davon, wie weit die Stimmungsmache gegen Ungeimpfte insgesamt inzwischen vorangeschritten ist. Und in einem STANDARD-Interview legte der selbstbewusste Rektor noch einmal nach und zog dort sogar einen längst verstorbenen satirischen Schriftsteller in die Diskussion hinein, der sich leider nicht mehr dagegen wehren konnte, dass eine seiner vielen bissigen Bemerkungen von einem Kärntner Bildungsfunktionär ihrer hintergründigen Ironie entkleidet und instrumentalisiert wurde. „Oder wie Karl Kraus sagte: In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, erklärte der Universitätsleiter bierernst, ohne sich mit der schillernden Doppeldeutigkeit des Satzes aufzuhalten. 

Karl Kraus — die Aufklärung — und der Papst! Wer hätte da Vitouch widersprechen können, wenn er doch solche Mächte hinter sich hatte bei seinem Drang, seinen Anordnungen nicht gefügige Personen aus der Universität zu entfernen. Kraus würde sich zwar wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass der Corona-Populismus es inzwischen schafft, sich nicht nur auf den Papst und auf die gesamte Aufklärung, sondern dann sogar auch noch auf ihn zu berufen, aber das muss ja Vitouch keine schlaflosen Nächte bereiten. Die sollten eher wir haben und uns fragen, was in der heutigen Welt los ist, dass so jemand den Posten eines Universitätsrektors innehat.

Ein falscher Begriff von Aufklärung

Ein Einschub muss hier noch sein, bevor wir zum nächsten Beispiel weiterschreiten. Denn wenn ein österreichischer Hochschulleiter schon offen legt, auf welchem Niveau er zu diskutieren wünscht, indem er auf einen Wikipedia-Artikel wie auf eine höhere Autorität verweist, dann wäre es doch nicht schlecht, wenn er wenigstens diesen selbst ordentlich gelesen und verstanden hätte. Das ist bei Vitouch möglicherweise nicht der Fall. Denn dann hätte er ja sehen müssen, dass es „die“ Aufklärung nicht gibt, sondern sie eine weit komplexere Bewegung war, als gemeinhin angenommen wird, dass zu ihr auch durchaus immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Wissenschaft und Wissenschaftskritik gehört haben und dass eine solche sogar oft an den Universitäten großes Thema war und dort gelehrt wurde.² Dass dieser Umstand im Zuge der Corona-Krise von Politikern und Medienleuten sowie diversen Agitatoren fast beständig übergangen wird, mag noch verzeihlich sein, denn denen geht es nun einmal bloß um Meinungsmache. Aber wenn ein Universitätsrektor so tut, als wüsste er nichts davon, dann ist das traurig.

Zweitens ist es darum natürlich ebenso falsch, dass Vitouch in seiner Aussendung Aufklärung auf (Natur-)Wissenschaft reduziert. Zur Aufklärung gehört nicht weniger vieles andere. Beispielsweise etwa die Ideen der Freiheit, der Würde und der Autonomie des Subjekts sowie grundlegender Persönlichkeitsrechte. „Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht.“ Auch das kann man im vom Klagenfurter Rektor verlinkten Wikipedia-Artikel nachlesen. Das übergeht er allerdings, weil er mit Beziehung auf diesen Aspekt der Aufklärung nicht so einfach autoritär Leute aus dem Universitätsleben ausschließen beziehungsweise ihnen eine Impfung vorschreiben könnte. Schwerlich wird er jedoch irgendwo einen Beleg dafür finden, dass eine solche rabiate Vorgangsweise den grundlegenden Ideen der Aufklärung entsprechen würde. 

Und drittens wird seit längerer Zeit im öffentlichen Diskurs überdies durch Corona-Populisten — und nun eben auch von Vitouch — eine Auffassung von Wissenschaft verbreitet, die irreführend ist. Denn genauso wie es nicht „die“ Aufklärung gibt, wie einen monolithischen Block, so gibt es auch nicht „die“ Wissenschaft. Wissenschaft wird hier ideologisiert und „als Herrschaftsmittel missbraucht“, wie der Blogger Jan David Zimmermann richtig erkennt. Wissenschaft ist ein komplexes, breit gefächertes sowie kontroversiell organisiertes Diskursfeld und bietet keine absolute Wahrheit, sondern immer nur vorläufige Erkenntnisse. Gerade im Zuge der Corona-Pandemie wurde dies ganz besonders problematisch und deutlich sichtbar.

Zimmermann: “Wenn jedoch vieles nur vorläufig gilt und morgen wieder ganz anders sein kann, ist es umso absurder, dass man mit einem Brustton der Überzeugung eine Eindeutigkeit der ‚Faktenlage‘ suggeriert, die eben nicht vorliegt.“ Der Blogger spricht in diesem Zusammenhang von der falschen „Gewissheit, mit der uns politisch-medial (aber leider auch wissenschaftlich) unumstößliche ‚Fakten‘ geliefert werden, die zu drakonischen Maßnahmen führen, die wir unbedingt einhalten müssen, nur um sich dann wenige Wochen bis Monate später der neu justierten Gewissheit stellen zu müssen, dass diese Maßnahmen und Ansichten mitunter unhaltbar, unwirksam, fehler-bis lückenhaft waren oder revidiert werden müssen […]“

Beispiel zwei: Der Fall Kimmich

Schauen wir nach Deutschland, wo nicht weniger seltsame Dinge vorsichgehen. Stellt sich doch dort ein einfacher Sportreporter wie ein Höchstrichter vor einem ohnehin nur mehr eingeschüchtert Antwort gebenden Fußballer auf, um ihn zur Rede zu stellen, weil er — nein, kein Verbrechen begangen hat, sondern ungeimpft ist.

Man sehe sich das Video vom 23. Oktober an, in dem Joshua Kimmich von SkySport interviewt wird:

Klare Worte von Joshua Kimmich💪👍👍👏👏👏👏👏👏👏

Man traut seinen Augen kaum, was man da sieht. Was sagt mehr über unsere aus den Fugen geratene Zeit als diese fünf Minuten? Ein Sportjournalist interviewt einen Fußballer, der eine persönliche Entscheidung getroffen hat, die im Grunde nur ihn angeht, wie Armin Wolf hierzulande einen korrupten Politiker. Zwischendurch wagt sich Kimmich mit dünner Stimme hervor und möchte die öffentliche Geißelung kurz unterbrechen, indem er fragt: „Haben Sie auch noch mal ein paar sportliche Fragen?“ Ein gerechtfertigter Hinweis darauf, dass es über die ganze Länge des Interviews seltsamerweise gar nie um das Fußballspielen geht.

Indes hat der Reporter, Patrick Wasserziehr, an dieser Stelle keine Schwierigkeiten, ein windiges Ausweichmanöver zu vollziehen: „Ich möchte durch die Fragen versuchen zu verstehen, auch im Sinne unserer Zuschauer, warum Sie so handeln! Darum geht es! Es geht nicht darum jemanden anzuklagen!“ versichert er. Eine kaum glaubhafte Antwort, denn genau das ist es, was Wasserziehr die ganze Länge des Interviews über tut: Kimmich anklagen, ihm Vorwürfe machen, ihn angreifen. Das ist das Einzige, worum es geht, über fünf Minuten lang, von Anfang bis Ende des Gesprächs.

Und man hat den Eindruck, er hört den gar nicht so schlechten Gegenargumenten des Fußballers noch nicht einmal zu. Konterkariert wird die besänftigende Behauptung des Sportjournalisten, er wolle ja nur verstehen, außerdem durch seine aggressive Körpersprache. In breiter Alphamännchen-Pose hat sich der großgewachsene Mann vor Kimmich hingestellt, steht da wie ein Baum und holt weit mit den Armen wie mit Ästen gegen ihn aus, oder wie ein Staatsanwalt gegen einen Delinquenten beim Kreuzverhör. Desgleichen ist die Stimmlage laut, kläffend und aggressiv. Systematisch treibt er Kimmich in die Enge, dem man Respekt zollen muss, dass er angesichts Wasserziehrs Benehmen so sehr die Ruhe behält.

Vermutlich fühlt sich aber auch Wasserziehr, wie Vitouch, als Speerspitze der Aufklärung. Was fehlt, ist freilich der Verweis auf den Papst, aber schließlich ist Wasserziehr ja nur Sportjournalist und kein Universitätsrektor. Da geht es auch ohne die höchste heilige Instanz.

Beispiel drei: „Wir“ sind „die Geiseln der Ungeimpften“ 

Eines klassischen Prinzips nicht nur des Corona-Populismus, sondern von Populismus überhaupt, bediente sich der „Spiegel“-Kolumnist Nikolaus Blome mit seinem am 8. November erschienenen Kommentar, der eine Überschrift trägt, die man nur mit dem Prädikat „reißerisch“ versehen kann: „Wir Geiseln der Ungeimpften“.

Es ist das Prinzip der Polarisierung schlechthin und lautet: „Wir“ gegen „die Anderen“. Allein schon der Titel der Kolumne drückt diesen Grundsatz klar und deutlich aus: Die Ungeimpften werden anscheinend gar nicht mal mehr als Leser des Textes in Erwägung gezogen, an sie ist er nicht einmal mehr gerichtet, so sehr werden sie schon als die „Anderen“, als die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen betrachtet. Sie kommen nur als die „Geiselnehmer“ des kollektiven „Wir“ vor. Dass sie selbst auch zu unserem „Wir“ dazugehören, das ist hier schon durch die Formulierung nicht mehr denkbar. Konsequent ist daher auch der folgende Satz des Textes, der die Spaltung in zwei „Wir“ vornimmt: „Die Minderheit der freiwillig Ungeimpften nimmt die Mehrheit der Geimpften in Haftung, ja, als Geisel.“

Nun bin ich selbst ein Geimpfter, aber ich wehre mich dagegen, mich unter eine solche populistische Lesart stellen zu lassen, die meine ungeimpften Freunde und mich auseinanderdividiert und mir einreden will, ich wäre von ihnen als Geisel genommen. Tatsächlich erkenne ich hier vielmehr das Bemühen des Autors, mich als Geimpften mit seiner verführerischen „Wir-Rhetorik“ in Geiselhaft zu nehmen und für seine Freund-Feindbild-Agitation zu vereinnahmen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 6. Dezember 2021 auf derStandard.at, wurde aber wieder offline genommen. Die Veröffentlichung auf respekt.plus erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Ortwin Rosner.

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Fußnoten

¹ Hier dieser entscheidende Absatz des Rundmails von Vitouch in ganzer Länge: 

Der Entschluss zu dieser Umstellung ist nicht Schikane, nicht Bosheit und nicht Spaltungslust. Er ist pure Vernunft. Die Lage ist alles andere als ersprießlich, es ist todernst. Die Impfung ist nicht perfekt, aber sie ist – auf strikt wissenschaftlicher Basis – das beste Präventionsinstrument, über das wir verfügen. Und es geht bei der Impfung selbstverständlich nicht allein um den eigenen Schutz, sondern ebenso sehr um den der anderen. Das ist an einem öffentlichen Ort wie der Universität, mit Tausenden Anwesenden Tag für Tag und deren intensivem Austausch, von herausgehobener Bedeutung. Der Papst ist übrigens auch dieser Auffassung (Impfung als „Akt der Nächstenliebe“); im Vatikan gilt seit Februar 2021 eine Impfpflicht. Jene, die all das kategorisch von sich weisen, müssen beizeiten beginnen darüber nachzudenken, ob eine Universität das Richtige für sie ist. Denn dass Universitäten für eine wissenschaftliche Weltauffassung einstehen versteht sich von selbst (Stichwort „Aufklärung“, https://de.wikipedia.org/wiki/Aufkl%C3%A4rung).

Demgegenüber sei darauf hingewiesen, dass nichts ist in den letzten Wochen und Monaten mehr ins Wanken gekommen, als die Behauptung, als Geimpfter schütze man auch die anderen. Denn Geimpfte verbreiten das Virus, und das wahrscheinlich sogar auf noch gefährlichere Weise als Ungeimpfte, in Form einer „unsichtbaren Welle“. Zu Näherem siehe hier unten bei den weiterführenden Links. 

Dass der Vatikan sich in Bezug auf die Impfung für eine strenge Linie entschlossen hat, stimmt im Übrigen. Dass indes ein Rektor einer Universität in einem demokratischen Land, der von Aufklärung spricht, sich einen monarchisch regierten Kirchenstaat zum Vorbild genommen hat, befremdet.  

² Um der Komplexität der Verhältnisse gerecht zu werden, müsste man eigentlich noch viel weiter ausholen. Tatsächlich nämlich ließe sich das Umgekehrte mit eben demselben Recht sagen: dass zur Wissenschaft auch immer wieder ein ambivalentes Verhältnis zur Aufklärung und Aufklärungskritik gehört haben.

Außerdem gehörte es traditionell ohnehin zur Aufklärung, in gewissen Schüben immer wieder sich selbst vernichtend zu kritisieren und quasi neu zu erfinden. Denn Aufklärung heißt nun einmal radikale Selbstreflexion und Selbstkritik. Wer aber dazu aufruft, einem bestimmten Bild der Aufklärung, vielleicht gar in Form eines Wikipedia-Artikels, sklavisch Folge zu leisten, gerade der hat sie schon verraten.

Ähnliches, wenn auch nicht ganz auf dieselbe Weise, gilt natürlich gleichfalls für das System Wissenschaft: Zwar sind die Behauptungen der verschiedenen Wissenschaften nicht beliebig, sondern müssen innerhalb eines gewissen, mehr oder weniger strengen, Regelsystems jeweils gut begründbar sein. Dennoch ist gute Wissenschaft zuerst einmal auch immer Selbstkritik gewesen, anders wäre Fortschritt gar nicht möglich gewesen. Wer aber einen bestimmten Erkenntnisstand fixiert und behauptet, jeder, der anderer Meinung sei, sei ein „Wissenschaftsleugner“, gerade der verrät Wissenschaft.

Links

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Corona-Populismus: Auf dem Weg zur illiberalen Demokratie

Die Gefahr, mit der wir es derzeit zu tun haben, kommt nicht von Rechtsextremisten, nicht von Esoterikern und „Corona-Leugnern“, sondern von einer Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte.

Nachdem ich im ersten Teil drei Paradebeispiele für „Corona-Populismus“ in der österreichischen und deutschen Debattenlandschaft hergenommen und analysiert habe, ist es in Teil zwei an der Zeit, das Geschehen aus einer breiteren gesellschaftlichen Perspektive zu betrachten.

Denn wenn ein Rektor ungeimpfte Studierende von seiner Universität ausschließt, wenn ein einfacher Sportreporter mit einem ungeimpften Fußballer so etwas wie ein öffentliches Tribunal veranstaltet und ein „Spiegel“-Kolumnist Ungeimpfte rhetorisch aus seiner Leserschaft entfernt, dann sind solche Vorfälle nicht isoliert zu begreifen. Vielmehr sind sie Ausdruck eines diskursiven Klimas, in dem die Tendenz zum Autoritären, zur gesellschaftlichen Spaltung und zur Machtergreifung immer gewaltigere Formen annimmt. Auch in dieser Hinsicht, und nicht nur in physikalischer, gibt es also einen „Klimawandel“. Man kann schon unsicher werden, welcher von beiden nun der Schlimmere ist.

Der Verfall des öffentlichen Diskurses

Hierin fügen sich auch andere, geradezu menschenverachtende Äußerungen. „Wir wollen die Zügel für Ungeimpfte straffer ziehen“, hieß es etwa aus dem Munde von Ex-Bundeskanzler Alexander Schallenberg, der in einem Teil der ihm anvertrauten Bevölkerung des Landes offenbar lediglich so eine Art Pferdeherde sah, die er in den Griff bekommen müsste. Weihnachten würde für die Ungeimpften „ungemütlich“ werden, versprach er „uns“, das heißt, den Geimpften. Denn von den Ungeimpften wird, wenn schon nicht immer nur als Tier, so doch grundsätzlich bloß noch in der dritten Person gesprochen. Und das Autoritäre scheint das Einzige zu sein, was den Spitzenpolitikern als Antwort auf gesellschaftliche Konfliktsituationen einfällt. „Die Zeit der Solidarität für Ungeimpfte ist abgelaufen“, fasste Elisabeth Köstinger einmal die Regierungslinie zusammen. 

Der Ton ist härter geworden. Das alles wäre aber weit weniger schlimm, wenn da nicht führende Medienvertreter, anstatt diese öffentlich zelebrierte verbale Gewalt zu kritisieren, auch noch eifrig mittun würden. Anstatt dass sie ein gutes Vorbild abgeben, scheinen manche von ihnen bisweilen jede Besinnung darüber über Bord geworfen zu haben, wie ein grundlegender Respekt im Umgang miteinander gerade in diesen schwierigen Zeiten aussehen sollte. „Ich kann gar nicht sagen, wie mich die Impfgegner mit ihrer selbstgerechten Wehleidigkeit und ihren Verschwörungs-Telegramm-Gruppen und ihren abstrusen Wahnvorstellungen von irgendwem ‚gechipt‘ oder von dunklen Eliten kontrolliert zu werden, mittlerweile anöden. Dieser esotherische [sic!] Mist ist so daneben“, ließ uns etwa Florian Klenk, Chefredakteur des „Falter“, vor einiger Zeit via Facebook wissen.

Die Verantwortung für unsere Äußerungen

Das ist immerhin ehrlich und kommt aus tiefster Brust. In Ordnung ist es trotzdem nicht. Als Leiter eines führenden Mediums sollte man nicht auf eine solche Weise seine persönliche Befindlichkeit in den Vordergrund stellen und darüber die gesellschaftliche Verantwortung für seine öffentlichen Äußerungen vergessen. Was will der Mann? Profiteur seines Verhaltens sind die FPÖ und ähnliche Vereine, denen er — natürlich nicht allein, sondern im Zusammenspiel mit anderen Wortführern des öffentlichen Diskurses — die Ungeimpften und sonstige kritische oder auch einfach nur vorsichtige Menschen regelrecht in die Arme treibt. Zu sehen war das Ergebnis bei der großen Massen-Demo in Wien. Da hat sich Klenk auf einmal gewundert.

Was Klenks emotionale Angespanntheit betrifft, so geht es zurzeit fast allen Menschen so, nicht nur ihm, gleich, ob geimpft oder ungeimpft, damit braucht er also nicht eigens mitteilsam zu sein. Und möchte er einmal wissen, wie es nun manchem auf dem Land geht, der über ungeheuer weite Strecken mit dem Auto und wieder zurück fahren muss, nur um sich ohne Unterlass testen zu lassen? Oder wie es Ungeimpften zurzeit geht, die lediglich ihren Arzt aufsuchen wollen und einen Zettel an der Tür finden: „Eintritt nur für Geimpfte„? Oder wie es jener älteren Dame geht, mit der ich kürzlich ein persönliches Gespräch hatte, deren Mann nach den ersten beiden Impfungen ein Blutgerinnsel bekam und nun lebenslang Medikamente nehmen muss? Sie selbst litt ebenfalls unter schweren Nebenwirkungen, hatte drastische Sehstörungen und will sich natürlich keine dritte Impfung mehr verpassen lassen. Dass diese Dame ihrerseits jetzt auch, nur auf ganz andere Weise als Klenk, „angeödet“ ist von dem Stil, in dem die Impfdebatte geführt wird, ist doch wohl hoffentlich sogar für ihn nachvollziehbar.

Würde Klenk dieser Dame so gegenüberstehen und sie ihm diese Dinge so erzählen, wie sie das bei mir getan hat, würde er ihr denn dann auch höhnisch ins Gesicht plärren, das sei doch bloß „esoterischer Mist“ und „selbstgerechte Wehleidigkeit“, was sie ihm da mitteilt? Und nein, gleich vorweg, das war keine FPÖ-Wählerin, außerdem hat sie kein Internet, sie ist also auch sicher nicht durch irgendwelche „Verschwörungs-Telegramm-Gruppen“ beeinflusst. Ich bin wohl einer der wenigen, die ihre Geschichte überhaupt zu Gehör bekommen haben, ganz zufällig.

Regressive Gewalt- und Machtphantasien

Die Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte kann man auch daran ersehen, dass vielfach ganz gewöhnliche Durchschnittsmenschen schon seit einiger Zeit Sätze runterrattern wie „Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass …“ oder „Wenn ich das Sagen hätte, dann …“. Und daraufhin zählen sie irgendwelche superautoritären Maßnahmen auf, die ihrer Meinung nach erstens binnen kurzem dem Virus den Garaus machen und zweitens offenbar auch die „Ungeimpften“ einer gerechten Strafe zuführen würden. Manchmal, wenn ich solchen Leuten zuhöre, frage ich mich, ob sie überhaupt bemerken, was sie da sagen. Denn wer so spricht, der sollte sich eigentlich dessen bewusst sein, dass er damit den Boden des demokratischen Diskurses verlassen und sich in einen Traum hineinbegeben hat, wie es wäre, wenn er Diktator wäre.

Was an solchen Äußerungen zu denken gibt, das ist in der Tat die völlige Identifikation mit der gesellschaftlichen Macht. Es sind primitive Allmachtsfantasien, die wohl in jedem Menschen latent schlummern. Als solche wären sie ja harmlos. Aber diese Leute meinen es ernst. Und es sind leider nicht nur jene am viel zitierten Stammtisch, die so unbedacht daherreden, sondern auch Vertreter der Leitmedien tun das. Es ist dieser totale Diskurs- und Bewusstseinszerfall, der Sorge bereiten muss, diese Selbstverständlichkeit, mit der mittlerweile solche autoritären Statements in Umlauf gesetzt werden, ohne eine Besinnung darauf, was man da eigentlich sagt.

Der Journalist Robert Misik etwa glaubt via Facebook aller Öffentlichkeit in Form eines Symbolbilds kundtun zu müssen, dass er sich gerne vorstellt, wie man Impfunwillige mittels Blasrohr medizinisch versorgt. „Ein präziser ‚Blow Job‘, und wieder ist einer geimpft …“, setzt er dazu und legt damit offen, dass seine Wunschfantasie nicht frei von sexueller Aggression ist. So genau hätten wir das eigentlich nicht wissen wollen. Der Applaus des Internet-Stammtischs war ihm damit aber gewiss. Andernorts im Netz ist man allerdings schon weiter und will Ungeimpfte überhaupt gleich mit Maschinengewehren injizieren. Auf welchem Niveau sich die Kämpfer des Corona-Populismus mittlerweile versammeln, kann man aber am besten an einer „Falter“-Karikatur vom 9. November erkennen. Auf der Darstellung der Künstlerin Stefanie Sargnagel ist zu sehen, wie sie auf dem Kopf eines Ungeimpften, dessen Argumenten sie nichts abgewinnen kann, ihre Notdurft verrichtet. In der „Falter“-Schickeria hält man so etwas offenbar für witzig. 

Machtergreifung

Nun handelt es sich dabei, so betrachtet, immer noch nur um private Machtfantasien oder bloße Meinungen, selbst wenn noch so viele Menschen so daherreden oder blödeln. Eine ganz andere Sache ist es, wenn die gesellschaftliche Entwicklung derart vorangeschritten ist, dass Entscheidungsträger auftauchen, die solche Fantasien, in denen die Grundlagen unserer Demokratie auf dem Spiel stehen, tatsächlich in die Realität umsetzen.

Der Klagenfurter Rektor, dessen Rundmail ich in Teil eins ausführlich analysiert habe, ist so einer. Einer, der nicht bloß davon träumen muss: „Wenn ich das Sagen hätte …“ Denn er hat das Sagen. Und er hat offenkundig keine Scheu, das in die Tat umzusetzen, wovon andere nur träumen. Vitouch hat zwar ebenso wenig wie die Leute am Internet-Stammtisch eine Ahnung davon, wie die Corona-Krise wirklich bewältigt werden könnte, aber dafür weiß er, was Machtergreifung ist und wie man mehr oder weniger elegant auf einen Sündenbockdiskurs aufspringt. Die Politik sowie die im öffentlichen Diskurs zirkulierenden Parolen machen es ihm vor, und andere werden ihm wiederum folgen. Und daran wird sich wieder die Politik orientieren. Die gesellschaftlichen Instanzen schaukeln sich gegenseitig auf. Eine eigene Dynamik ist in Gang gesetzt worden, eine verhängnisvolle Spirale hat sich zu drehen begonnen, die, wenn man nicht aufpasst, zu allem Möglichen hinführen kann.  

Es sollte daher gar nicht so sehr darum gehen, Vitouch und irgendjemanden anderen als einzelne Person anzugreifen. Er ist auch nur Symptom von gesellschaftlichen Entwicklungen, nicht die Ursache. Dass solche Gestalten wie er auftauchen und sich so verhalten, wie sie sich verhalten, liegt im Sog der Zeit. Er glaubt, er handelt als er selbst, als ein Individuum, dabei ist er bloß der Punkt auf einer Welle. Er ist jemand, der mit dem Strom schwimmt, den es ohne ihn auch geben würde. 

Eine andere Person, die, wenngleich auf ganz andere Weise, bloß mit dem Strom schwimmt, ist etwa jene Lehrerin, die kürzlich in aller Offenheit Demonstranten den Tod gewünscht hat, und das vor versammelter Klasse. Auch das ein Ausdruck der Radikalisierung der Mitte, auch das ein Effekt des Corona-Populismus, auch das ein Fall von Machtmissbrauch. Das Ergebnis ihrer monatelangen Agitationen können sich die Wortführer des öffentlichen Diskurses hier anhören. Das eigentlich Bedenkliche an solchen Wortmeldungen ist die zunehmende Enthemmtheit, wie in einer Art Blutrausch oder Kriegsrausch: 

Lehrerin wünscht Demonstranten den Tod❗ (Aufnahme)

Die neue Disziplinargesellschaft

Um das zu verstehen, was hier passiert, kann es daher recht nützlich sein, nicht nur die Schriften des Sozialphilosophen Michel Foucault, sondern auch das Werk „Masse und Macht“ des Dichters und Denkers Elias Canetti gelesen zu haben, in dem soziodynamische Prozesse der hier beschriebenen Art analysiert werden. Auch ein Wissen um die Ergebnisse des Milgram-Experiments, des Stanford-Prison-Experiments und des Konformitätsexperiments von Asch können nichts schaden. Dabei handelt es sich um Meilensteine der Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts, in denen zu erklären versucht wurde, was die anthropologische Grundlage autoritärer beziehungsweise faschistoider gesellschaftlichen Entwicklungen darstellt und warum dabei so viele mitspielen. 

Hinter all dem, was zurzeit um uns geschieht, steckt also eher kein bewusster Gesamtplan, und daher wohl wenig, was dem entsprechen würde, was zum Inhalt einer sogenannten „Verschwörungstheorie“ taugen könnte. Vielmehr muss eine grundlegende Eigendynamik historischer Prozesse in Rechnung gezogen werden, die über das bewusste Denken und Planen der Individuen hinausgeht.

Harmlos ist freilich dennoch nicht, was sich alles um uns abspielt, und naiv sind jedenfalls diejenigen, die glauben, es handle sich bei den Maßnahmen, die zurzeit in der ganzen westlichen Welt von den Regierungen über ihre Bürger verhängt werden, lediglich um etwas „Vorübergehendes“, das mit dem Ende der Corona-Ausnahmesituation zurückgenommen und sang- und klanglos wieder verschwinden werde.  Weder lassen sich die an den Schalthebeln der Macht befindlichen Akteure so leicht die Instrumentarien wieder wegnehmen, die sie sich einmal erkämpft haben, noch lassen sich soziodynamische beziehungsweise historische Prozesse der hier beschriebenen Art so einfach rückgängig machen. Der US-amerikanische Patriot Act, ein Gesetzesbündel, das vor zwanzig Jahren bloß als unmittelbare Antwort auf den 9/11-Anschlag vorgestellt wurde und zu einer Einschränkung an Bürgerrechten geführt hat, wurde schließlich auch nie zurückgenommen, sondern ist bislang noch von jedem US-Präsidenten verlängert worden. 

Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die offene Gesellschaft. Es handelt sich um die Verwandlung der westlichen Staaten in illiberale Demokratien. Ganz überraschend kommt diese Entwicklung nicht, denn die Tendenz der gesellschaftlichen Mitte zum Autoritären hat sich schon länger abgezeichnet. Auch jetzt sind sich indes viele der tiefgehenden Umwälzung gar nicht bewusst und verstehen nicht, was das alles bedeutet. Sie werden auch in Hinkunft glauben, sie leben in derselben Demokratie wie zuvor.

Andere Personengruppen hingegen werden den Wandel allerdings deutlich fühlen, zum Beispiel deswegen, weil über sie mit diversen Begründungen irgendwelche brutalen „Maßnahmen“ verhängt werden, oder auch deswegen, weil sie permanent sehen, dass ihre Facebook-Postings und YouTube-Videos plötzlich mit dem Vermerk „Verstößt gegen die Community-Richtlinien“ verschwunden sind, oder aber weil sie von Internet-Wachtrupps, wie sie in den bereits bestehenden „Volksverpetzer“- und „Faktenchecker“-Vereinen jetzt schon eine gewisse Vorform haben, gemobbt, eingeschüchtert und diskreditiert werden. So in etwa wird sie ausschauen, die neue Disziplinargesellschaft, frei nach Foucault. Überhaupt wird vieles auf einen Kampf ums Internet hinauslaufen.

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